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Interview
Nato-Beitritt vor 70 Jahren:Major: Keine Ausreden mehr bei Verteidigung
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Bald ist Deutschland 70 Jahre in der Nato und angesichts eines möglichen Rückzugs der USA mehr denn je als Führungsnation gefordert. Die Politologin Major über Chancen und Risiken.
Die Bundesrepublik Deutschland trat der Nato 1955 bei. 32 Staaten sind Mitglied im Bündnis.
Quelle: Imago
In diesen Tagen jährt sich der Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Nato zum 70. Mal. Das wird am heutigen Montag auch mit einem Festakt gefeiert. Doch während das Verteidigungsbündnis über Jahrzehnte fest beisammenstand, bestehen seit dem Amtsantritt von Präsident Donald Trump Zweifel, ob die USA ihrer Bündnisverpflichtung im Ernstfall noch nachkommen werden.
Die Politikwissenschaftlerin Claudia Major spricht mit ZDFheute darüber, wo Deutschland in der Nato derzeit steht und welche Rolle es künftig spielen könnte.
ZDFheute: Aktuell schaut die Welt auf den "Friedensplan", den US-Präsident Trump der Ukraine vorgelegt hat. Einige sprechen von "Diktatfrieden". Müssen sich Deutschland und Europa nun entscheiden, zu wem sie stehen - Kiew oder Washington?
Claudia Major: Die Europäer stehen angesichts der amerikanischen Vorschläge, die weitgehend russische Ziele beinhalten, vor einem sehr großen Dilemma. Wenn sie diesen zustimmen, dann widersprechen sie all ihren vorherigen Positionierungen, sie opfern de facto die Ukraine einem russischen Diktatfrieden; und sie verschlechtern die Sicherheitslage in Europa. Denn wenn Russland lernt, dass es mit Kriegführen seine Ziele erreicht, könnte es dies erneut versuchen (…)
Sollten sie gemeinsam mit der Ukraine diesen Plan ablehnen, dann wird man ihnen die Schuld daran geben, dass der Krieg weitergeht und ihnen unterstellen, dass sie keinen Frieden wollen. Letztlich könnten sie mit der Aufgabe der Konfliktbewältigung alleine dastehen, weil sich die USA dann vermutlich aus sämtlicher Unterstützung zurückziehen werden. Das heißt, sie sind de facto von Russland zusammen mit den USA an die Wand gespielt worden.
... ist seit dem 15. März 2025 Senior Vice President für internationale Sicherheits- und Verteidigungspolitik beim German Marshall Fund. Der German Marshall Fund of the United States (GMF) ist eine 1972 gegründete gemeinnützige Organisation, die die transatlantische Zusammenarbeit in Bereichen wie Sicherheit, Wirtschaft und Demokratie fördert. Major ist Verteidigungsexpertin mit Schwerpunkt auf Nato, europäischer Sicherheit und transatlantischen Beziehungen. Zuvor war sie Leiterin der Abteilung Internationale Sicherheit bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) sowie tätig bei Institutionen wie dem Zentrum für Sicherheitsstudien der ETH Zürich und dem EUISS.
ZDFheute: Am 6. Mai ist Deutschland 70 Jahre Mitglied der Nato. Wie würden Sie das Bündnismitglied charakterisieren?
Major: Deutschland war in den letzten Jahren in der Nato ein häufig zögerlicher, aber in der Regel verlässlicher Status-quo-Alliierter, der sich in den bestehenden Formaten eingebracht hat, aber immer etwas zurückhaltend gegenüber neueren Initiativen gewesen ist.
Seit 2022 hat sich das etwas geändert, etwa mit der Litauenbrigade. Wenn sich jetzt die Nato aufgrund der transatlantischen Veränderungen fundamental neu aufstellen muss, muss Deutschland de facto aus der Deckung gehen und mehr von der Führungsaufgabe übernehmen, die die USA bislang wahrgenommen haben.
ZDFheute: Die USA unter Trump müssen nicht unbedingt die Nato verlassen, um sie zu schwächen. Das geht auch anders ...
Major: Sie können beispielsweise Schlüsselpositionen nicht mehr besetzen. Sie können ihre Truppen nicht mehr für die Nato zur Verfügung stellen, ob es jetzt für die Verteidigungsplanung ist oder einfach nur für Übungen. Das heißt, sie können ihre politische Führungsrolle nicht mehr wahrnehmen und ihre materiellen Beiträge nicht mehr oder weniger leisten. Allein das würde die Nato als Verteidigungsbündnis fundamental schwächen.
Die Idee von Abschreckung beruht doch darauf, dass die Nato-Staaten und auch die Gegner von außen glauben, dass alle Alliierten wirklich füreinander einstehen in einer Krisensituation. Und wenn der größte Alliierte sagt: "Ich weiß nicht mehr, ob ich an Europas Sicherheit interessiert bin" - dann ist die politische Abschreckungsleistung letztlich schon geschwächt.
Und wenn dann die militärische auch noch geschwächt wird, weil die USA ihre Beiträge nicht mehr oder nur teilweise bereitstellen wollen, dann ist die Nato an sich fundamental geschwächt, obwohl die USA noch Mitglied sind.
ZDFheute: Könnten Deutschland und Europa dieses Vakuum füllen? Die Lücke, die die USA hinterlassen würden?
Major: In diesen drei Bereichen - politische Führung, konventionelle Masse- und Schlüsselfähigkeiten und im Bereich der nuklearen Abschreckung - würden drei riesengroße Lücken entstehen, die die Europäer nicht vollständig und auch nur über Zeit und mit einem sehr großen Finanzaufwand füllen können.
Also wir müssen uns ehrlich machen und anerkennen, dass wir diese Rolle der USA als politische Führungsmacht, als militärische konventionelle Macht und als nukleare Abschreckung nicht einfach ersetzen können.
Sondern es wird eine andere, genuin europäische Verteidigung sein, die wir denken müssen. Es geht nicht nur um Lücken füllen, sondern es geht letztlich darum zu überlegen, wie wir europäische Verteidigung als Europäer selber denken und entwickeln würden, wenn wir die amerikanischen Konzepte und die Masse und Qualität nicht mehr haben. Das ist eine riesengroße Hausaufgabe, die man nicht mal so nebenbei lösen kann.
ZDFheute: Was erwarten die anderen Europäer von Deutschland? Jetzt, da Verteidigungsausgaben von der Schuldenbremse befreit sind?
Major: Es gibt für Deutschland selbst keine Ausreden mehr von wegen "wir haben nicht genug Geld, wir können das nicht machen". Sondern die finanziellen Mittel sind da. Und diese Finanzentscheidung ist auch ein Zeichen, dass die Dringlichkeit verstanden worden ist. Und jetzt kommt der nächste riesengroße Schritt, nämlich dieses Geld klug auszugeben.
Das wird die erste große Aufgabe im Verteidigungsbereich für die neue Regierung sein, diese enorme Summe klug zu investieren in die deutsche Verteidigungsfähigkeit, die dann wiederum auch die europäische Verteidigungsfähigkeit stärken wird. Deutschland als großes Land in der Mitte von Europa ist ein zentraler Pfeiler für die europäische Verteidigung.
Wenn Deutschland stark ist, dann kann es all die anderen kleinen Staaten, die eng mit Deutschland zusammenarbeiten, ertüchtigen.
Wenn die Bundesregierung dieses Geld nicht klug einsetzt und die Bundeswehr nicht schnell einsatzfähig macht, dann wird letztlich auch Europa dadurch geschwächt.
ZDFheute: Was kann Deutschland konkret in dieser Phase des Umbruchs tun, um die Nato zusammenzuhalten?
Major: Die zentrale Frage an die Europäer ist, reagieren sie unter Druck zusammen oder lassen sie sich spalten? Und wir haben in der Vergangenheit oft gesehen, dass die Europäer unter Druck in kleine Grüppchen zerfallen oder doch versuchen, durch bilaterale Beziehungen mit den USA irgendwie ihre nationalen Sicherheitsinteressen zu verfolgen und ihre nationalen Sicherheitsprobleme zu lösen. (…)
Für Deutschland ist die erste Hausaufgabe, die Zusagen, die es gegenüber der Nato im Rahmen der Verteidigungsplanung getroffen hat, zu erfüllen. Beispielsweise, dass die Brigade Litauen einsatzfähig und voll ausgestattet ist. Und die zweite Aufgabe ist, politische Geschlossenheit in der Nato und in Europa in den verschiedenen Formaten zu schaffen. Sich eben nicht auseinanderdividieren zu lassen, sondern zu versuchen, mit Ideen voranzugehen, dafür Unterstützung bei den Europäern zu werben und diese Ideen dann auch wirklich umzusetzen.
ZDFheute: Was, wenn Deutschland und Europa diese Rolle in diesem Moment nicht erfolgreich annehmen?
Major: Wenn Europa es nicht macht, wird es militärisch verwundbar. Eine Abschreckung, die nicht glaubwürdig ist, kann Russland zu Angriffen - ob militärisch oder in der großen Grauzone, wo es jetzt schon sehr aktiv ist - weiter einladen. Also der Preis für fehlende europäische Verteidigungsfähigkeit zahlen nicht die USA. Den zahlen die Europäer selber, weil sie ihre wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen Errungenschaften riskieren.
Das Interview führte Ines Trams, Korrespondentin im ZDF-Hauptstadtstudio.
Quelle: dpa
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Quelle: ZDF
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